Ein ganz normaler Tag ?
Heut fing der Tag harmlos an – ich dachte, er wird wie jeder Tag. Tun, was getan werden muss und dann Feierabend.
Sohnemann verlässt vor mir die Wohnung, die Schule wartet. Es ist noch dunkel, als er geht. Mein Tag beginnt viel später, ich kann mit dem Aufstehen warten bis es hell ist. Dann ziehe ich meine Kreise wie jeden Tag. Von Küche ins Bad und zurück und wieder in die Küche. Der Kaffee dampft schon in meiner Tasse, da bemerke ich den Anorak von Sohnemann. Er hängt an der Garderobe, als wäre er nicht zur Schule gegangen. Aber das ist nicht möglich denn er hatte in der Früh die Wohnung verlassen. Aber vielleicht hat er ja auch eine andere Jacke angezogen. Dieser Gedanke scheint mein Stutzen aufzulösen. Aber lange hält sich der Gedanke nicht in meinem Kopf und ich gehe ins Zimmer von Sohnemann.
Er liegt in seinem Bett – die Decke über die Ohren gezogen. Wie das? Er ist heut früh doch gegangen und vor 13 Uhr sollte er nicht zu Haus sein. Jetzt ist es aber erst 10 Uhr und er liegt im Bett?
“Was ist los?” ich tippe ihn an, will ihn wach machen. Es dauert, bis er antwortet.
“Ich hab heut früh auf den Schulweg einen Anfall bekommen und bin dann wieder nach Hause gefahren”. Bei dem Wort “Anfall” spannen sich gleich meine Herzkammern an. “Ich bin aus dem Bus gestiegen und als ich wieder zu mir kam, saß ich schon wieder an der Straßenbahnhaltestelle. Was dazwischen war, weiß ich nicht” Noch mal ein Druck auf meine Herzkammern, so als würden sie enger und enger.
“Hat dich denn niemand gesehen?” will ich wissen. “Anscheinend nicht, sonst hätte ich nicht an der Straßenbahnhaltestelle gesessen”. “Vielleicht war es doch kein Anfall und du hattest ein Blackout oder so”. “Nein, ich hab mir auf die Zuge gebissen, das war bestimmt ein Anfall".” Ich weiß gar nicht, wie eng meine Herzkammern schon zusammen gerückt sind und wundere mich das überhaupt noch Blut durchfließen kann. Aber mein Herz schlägt weiter, wie immer, wenn ich denke, es bleibt mir stehen, aber es schlägt und schlägt und schlägt. Heut wieder mal voll Sorge und das macht das schlagen schwerer als sonst. Ich darf den Gedanken, dass Sohnemann allein im Schnee gelegen und gekrampft hat, gar nicht zu Ende denken, sonst verkrampft sich mein Mutterherz auch noch. Sohnemann ist vom Anfall erschöpft und schläft tief und fest.
Ich muss los. In der Sporthalle warten 20 Kinder auf mich und wollen ihren Sportspaß haben. Auf meinen Co-Trainer und Sohnemann muss ich heut verzichten, er kann das Haus heut nicht verlassen.
Die Straßenbahnfahrt nutze ich, um mich mit der Tochter zu unterhalten. Sie steht kurz vor der Geburt ihres dritten Kindes. Das ist ein erfreuliches Ereignis. Weniger erfreulich ist, dass sie seit ein paar Tagen eine Thrombose im Bein hat und diese Tatsache hatte in den letzten Nächten an meinen Ängsten genagt. Ich lass ihr Haustelefon klingeln und niemand geht ran – ich lass ihr Handy klingeln und niemand geht ran. “Wo steckt das Kind?” frag ich mich und in Kombination mit dem Anfall von Sohnemann heut früh, werden meine Nerven etwas schwächer und lassen die Gedanken in düstere Gefilde abdriften. “Sie wird doch nicht etwa in der Klinik liegen, weil Gefahr für Mutter und Kind in Verzug ist?”
Jetzt werden meine Knie weich. Ich merke, wie sich die Kniesehnen in Gummibändern wandeln und mein Körpergewicht sich nach untern zieht. Tränen wollen sich ihren Weg bahnen, doch meine Ratio sagt, bleibt auf dem Teppich.
Doch es ist zu spät – die Gedanken kreisen bereits auf Hochtouren über düstere Gefilde und senden Flüche an die Väter der Kinder. Der eine hat sich verpisst und sich aus der Verantwortung gezogen und der andere ist weggestorben. Sie haben mich allein gelassen, mit all den Sorgen, die Kinder auch mit sich bringen. Der Jüngste erholt sich von seinem Anfall. die Älteste hat eine Thrombose im Bein und der Mittlere hat der gesamten Familie den Rücken gekehrt. Er ist wie ein totes Kind das nicht tot ist. Es gibt kein Grab an dem ich seinen Verlust betrauern kann.
Mitten in diesen wirren Gedanken meldet sich meine Tochter “Mutti, mach dir keine Sorgen. Es ist alles ok” Sie beruhigt mich und das gibt zumindest meinen Knien wieder die Festigkeit zurück. Sohnemann schläft und erholt sich und ich betrete die Sporthalle, in der 20 Kinder auf ihr Training im Breitensport warten. Von 20 Kindern haben mindestens 5 ihren Ohren vergessen, weitere 5 haben ihrer Augen in der Umkleide liegen lassen und 2 von den kleinen Rabauken haben sogar ihren Kopf zu Hause gelassen. Ich schlage mich durch die Trainingsstunde und vergesse die Sorgen, die mich vor der Tür noch quälten.
Wieder einmal vertraue ich darauf, dass die Dinge sich wieder richten und wieder auf die normale Umlaufbahn kommen, wie schon so oft, als ich dachte, die geraten für immer aus den Fugen.
Um mich weiter abzulenken, hab ich mal eben kurz und im vorbei gehen den Lichtenhagener Bahnhof fotografiert.

Ein schöner Blick auf den verschneiten Bahnhof in Richtung Warnemünde
Hier der Auf- und Abgang zum Bahnhof für Rollstuhl- und Radfahrer. Das leicht verschneite Geäst an der rechten Seite gab dem metallische Weg einen besonderen Charme.

Und zu guter Letzt ein Blick auf das berühmt und berüchtigte Sonnenblumenhaus. Im August 1992 brach dort die Hölle aus. Heut steht es ganz harmlos da, wie auch das Stadtteil Lichtenhagen vor sich hindämmert. Es steht einfach da, zeigt seine Sonnenblumenfront Richtung Schnellstraße zwischen Rostock und Warnemünde. Doch immer, wenn mich mein Weg an dem Hochhaus vorbei führt, denke ich an die Ausschreitungen von damals.
Nach dem kleine Fotoshooting setze ich mich in die Bahn und fahre wieder zurück. Auf der anderen Seit von Rostock warten noch 7 Frauen auf ihre Yogastunde. Heut drehen wir uns in den Drehsitz. Als ich wieder zu Hause eintreffe, ist Sohnemann wieder über den Berg und wartet darauf, das ich ihm heut mal die Schnitten mit Mutterliebe zubereite :-). Ja…wozu eine Mutter doch alles gut ist. Ich bin sicher, morgen hat er alles wieder vergessen und stürzt sich wieder ins pralle Leben.
LaWe