Abschied
Meine Füße fühlen sich kalt an und daran ist nicht nur das winterliche Wetter schuld. Die Flächen um mich herum sind von einem weißen Schneeschleier überzogen und einzelnen Flocken rücken stetig nach. Auch wenn die zarte Schneedecke frisch aussieht, die Natur sieht unterkühlt aus. Jetzt ist jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Ich starre auf die Erdlöcher, die vor mir liegen. Sie sind so eng nebeneinander, dass alles was darin versenkt wird, mit einander korrespondieren könnte. Doch das wäre ein Wunder der Natur, dass es nur in Märchen gibt.
Ich starre auf die Blumen, die nach der Versenkung der Urne nur noch zu sehen sind. Sie könnten das Wunder der Natur sein, denn in Mitten der schneebedeckten Fläche strahlt ihr rot besonders intensiv. Rot – die Farbe der Liebe und der Feuers. Sie bleibt als letzter Gruß der Oma von Sohnemann zurück und als letztes sichtbar. Sohnemann steht neben mir. Er ist wie ich in seinen Gedanken versunken. Vielleicht quälen ihn noch ein paar Reuen, weil er seine Oma nicht so oft besucht hatte, wie sie es sich gewünscht hätte. Doch er startet ins Leben und Oma beendet ihres – so ist das Leben. Doch an dieser Stelle, an der wir Trauernden jetzt stehen, sieht es besonders trist und hart aus.
Während ich an der kleinen Grabstelle stehe, läuft der Abschnitt unseres gemeinsames Leben an mir noch einmal vorbei. Unser Leben verband ihr Sohn und nach seinem Tode mein Sohn. Die Söhne waren unsere Bindeglieder und der Grund für Spannungen zwischen Frauen, die auf ihre Art mit Ängsten umgingen. Wenn es um die Söhne ging, dann änderte sich das Klima zwischen uns. Nicht unterkühlt oder gar kriegerisch. Nein, es es ging um etwas, was ich nicht fassen konnte. Vielleicht ging es um die Angst vorm allein sein. Nicht um meine Angst, sondern um Omas Angst. Sie hatte immer Angst, ich würde ihr den Sohn nehmen und später hatte sie Angst, ich könnte ich den Enkelsohn nehmen. Ihr Sohn wie mein Sohn litten darunter und wussten nicht warum. Ich wünschte mir, es wäre Oma leichter gefallen, ihren und meinen Sohn mit mir zu teilen. Ich sah, wie sie litt, doch ich konnte ihr nicht helfen, aber ich erlaubte ihr, das Enkelkind über die Zeit zu bemuttern. Solange, bis er nicht mehr wollte. Er wollte eine Oma, aber kein Omakind mehr sein. Ich sah ihr Leid und ihre Schmerzen. Aber die Kinderzeit war unwiederbringlich vorbei. Aus dem Enkelsohn war ein junger Mann geworden und als solcher stand er wie ich gestern an ihrer Grabstelle, an der unsere Blumengebinde als letzten Gruß vom Bestatter abgelegt wurde. Die weiße Chrysanthemen passen zur zarten Schneedecke des beginnenden Winters.
Mit unserem letzten Gruß ist die Oma für immer von uns gegangen – vielleicht zu ihrem Sohn, der schon vor 10 Jahren den Weg vor ihr gehen musste.
Was von ihrem Leben bleibt, sind noch ein Sohn und ein Enkelsohn und meine Hoffnung, dass die beiden Männer einen eigenen Zusammenhalt finden.